Reservebank oder Startelf ?


Oder: „Und welche Hobbies hat dein Kind so?“

„Welches Musikinstrument spielt dein Kind? Welche Hobbies hat es? In welchen Vereinen seid ihr?…“ Ganz normale Fragen in der „ganz normalen Welt“. Oder vielleicht besser gesagt in der europäischen wohlständigen Gesellschaft.

Dass unser Benjamin über die Jahre gehen, laufen, springen, schwimmen, lesen, schreiben, Fahrrad fahren und vieles mehr erlernt hat habe ich in den letzten 2 Artikeln https://herzeltern.de/familienalltag/benjamin/ und https://herzeltern.de/familienalltag/benjamin-2/ berichtet. 

Das alles lies und lässt uns staunen und so stand es für uns außer Frage, dass Benjamin am „normalen“ Freizeitleben teilnehmen sollte. 

Benjamin spielte von klein auf bei jeder Gelegenheit gerne Fußball, weshalb uns ein Fußballverein das beste Hobby erschien. 

Beim Anruf beim ortsansässigen Verein schilderte ich unseren Wunsch Benjamin zum Fussballtraining anzumelden. Ich erzählte dem Trainer gleich offen und ehrlich von Benjamins Behinderung und den damit vielleicht verbundenen Schwierigkeiten seinerseits alle Regeln richtig umzusetzen, strategisch zu spielen …. „Gar kein Problem“, sagte der Trainer, „Fußball ist Teamsport und das kriegen wir locker hin.“ Voller Freude fuhren wir also zum Probetraining bei dem Benjamin Spaß hatte, sich anschließend aber über die teilweise sehr schroffe und laute Wortwahl wunderte. 

Der Trainer lud am Ende zum Trainingscamp in der nächsten Woche ein und wir waren total happy als Benjamin ohne Zögern verkündete er wolle da die 5 Tage tagsüber alleine hin. 

Klar war mir als Mutter ganz schön mulmig bei dem Gedanken den 9 jährigen Sohn da alleine zu lassen aber klar waren Papa und Sohn sich einig, dass das genau das Richtige sei. Noch einmal rief ich beim Trainer an und schilderte ihm meine Sorgen … 

Das Fußballcamp startete und Benjamin verabschiedete sich glücklich und voller Elan am Eingang. 8 Stunden später bei der Abholung war seine Begeisterung zu spüren und so ging er am nächsten Tag wieder hin. Bei der Abholung an diesem Tag war Benjamins Freude nicht mehr ganz so groß, er sagte er habe oft nur rumgesessen, hätte bei den Fußballspielen  nur auf der Bank auf seinen Einsatz gewartet …. Löwenmuter (ich) tröstete den Sohn, ermutigte ihn dran zu bleiben und fragte am nächsten Tag zaghaft beim Trainer nach, der nur sagte „alles super, beim Fußball sind wir da nicht zimperlich, der Junge kommt schon noch zum Zug…“. 

Nach 5 Tagen (an denen Benjamin von Tag zu Tag mit weniger Lust hinging) gab es ein Abschlussturnier, eine Auswertung  mit den Trainern, einen Pressebericht und eine Urkunde für jedes Kind. Leider bekam Benjamin als Einziger keine Urkunde und durfte nicht mit aufs Pressefoto da er „das Trainingscamp nicht erfolgreich abgeschlossen hatte“. 

Die Frage ob wir noch ein weiteres Mal zu diesem Verein gingen scheint überflüssig,

Monatelang fühlte ich mich schlecht, dass ich meinen Sohn nicht hatte bewahren können vor so einer Demütigung. 

Eine unserer liebsten Familienfreunde waren so mit traurig über dieses Erlebnis, dass sie Benjamin ein Paket schickten mit einer gemalten Urkunde die er bis heute besitzt. Das war Balsam für meine Seele und rührt mich noch heute beim Schreiben zum Weinen. 

Das Thema Vereinssport war für einige Jahre auf Eis gelegt, dann kam ein Umzug und Benjamins Wunsch, Sport im Verein zu machen wurde lauter. Fußball kam für mich (und auch zum Glück für Mann und Sohn) nicht mehr in Frage aber Trampolin war neben Fußball Benjamins große Sportleidenschaft geworden. Ein Blick ins Internet und wir hatten die Nummer vom örtlichen Trampolinverein. Der Anruf verlief ähnlich wie damals beim Fußballtrainer: ich schilderte Benjamins Besonderheit, der Trainer versicherte mir, dass dies für ihn absolut kein Problem sei und wir vereinbarten 4x zum Probetraining kommen zu dürfen. 

Training 1 verlief ganz gut, der Trainer erklärte Benjamin alles, Benjamin tat so als habe er alles verstanden, freute sich mega über das riesen Trampolin und zeigte gleich mal sein ganzes Repertoire. Der Trainer war begeistert, dass Benjamin Saltos vorwärts und rückwärts konnte „obwohl er doch angeblich behindert sei“ und erklärte ihm dann, dass er das aber die ersten Monate im Training nicht machen dürfe da er erst die Grundausbildung durchlaufen müsse. Benjamin nickte zustimmend und ging glücklich und zufrieden mit mir nach Hause. 

Beim Training 2 sollte ich draußen warten. Nach dem Training war Benjamin sauer, dass er „nur immer gerade hüpfen musste und keine Saltos machen durfte“, ging aber auch noch zum 3. Training. Nach Training 3 kam der Trainer mit raus und sagte „er verstehe so gar nicht warum sich Benjamin nicht an die Regeln halte , verbotener Weise Salti schlage, beim Aufwärmtraining absichtlich im Zirkel in die falsche Richtung laufe ….“. 

Ich versuchte Benjamins Verhalten zu erklären, merkte aber dass der Trainer sehr wenig Verständnis hatte und war nicht überrascht als dieser nach Training 4 sagte „das wäre wohl doch nichts für Benjamin und leider könne er nicht aufgenommen werden“. 

Das Kapitel Vereinssport schien damit für mich endgültig erledigt.

Dann kam wenige Wochen später mein Mann Frank total begeistert von seiner Arbeit nach Hause und erzählte mir von einem „total netten, motivierten und herzlichen Menschen (Michi) der bei Werder Bremen eine inklusive Fußballarbeit leite und den er heute in der Gemeinde kennen gelernt habe weil er da auch mit den Kids des Stadtteils gekickt habe.“ 

Ich war super skeptisch aber Benjamins Augen leuchteten so beim Zuhören, dass Vater und Sohn 2 Tage später zum Training fuhren um sich das anzuschauen. 

Heute, 7 Jahre später bin ich immer noch überglücklich über dieses Geschenk!

Nicht nur dieser besagte Michi, unfassbar viele überdimensional motivierte und herzliche Menschen gab und gibt es da. Menschen die ihre Freizeit investieren um Kinder, Jugendliche und Erwachsene (zu denen unser Benjamin ja inzwischen zählt) den Traum zu erfüllen Fußball zu spielen,  Teil einer Mannschaft zu sei , sich zugehörig zu fühlen, Spaß zusammen zu haben, bei Turnieren dabei zu sein, ein Mannschaftstrikot zu tragen, Siege zu feiern und Niederlagen zu verarbeiten, Ausflüge zu machen, an Fußballcamps teilzunehmen (und dafür auch mal gemeinsam nach Italien zu fliegen… )… Viele Stadionbesuche, Einlaufen ins Stadion, Kicken im Stadion in der Halbzeit bei Bundesligaspielen und vieles mehr gab es bisher on top.

Hier spielen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam Fußball, und ob einer in die falsche Richtung rennt, ein anderer im Rollstuhl übers Feld geschoben oder noch ein anderer ständig den Ball in die Hand nimmt und mehr Handball als Fußball spielt ist völlig egal. Unser 10 Jähriger spielt auch da und er sagt „hier geht es einfach um den Spaß am gemeinsamen kicken und ich habe noch nie ein böses Wort von einem der Trainer gehört. Die sind da so ganz anders als sonst beim Fußball.“ 

Eine Ersatzbank gibt es hier auch, aber ich habe noch kein Spiel erlebt an dem nicht alle regelmäßig ausgewechselt wurden und jemand  nicht gespielt hat!

Was für ein Geschenk! Wer einmal gelebte, funktionierende Inklusion, Motivation  und Herzlichkeit erleben möchte sollte einfach mal zum Training vorbei kommen https://www.werder.de/de/teams/breitensport-fussball/teams/youngstars.

Inzwischen ist (wenn Corona es zulässt) Benjamin Teil des Volunteer-Teams von Werder und hilft bei den Heimspielen im schicken Anzug im VIP Bereich Armbänder verteilen, oder ist direkt am Fußballrand „so nah wie sonst keiner (O-Ton Benjamin) und bläst in den Pausen riesen Werbeträger auf. Nicht erst einmal wurde er vor und nach den Spielen angesprochen wie er zu diesem „geilen Job“ kam.

Über Benjamins Alltag und Arbeit als Erwachsener kannst du dann im nächsten Artikel lesen.

1 Kommentare

  1. […] Schon immer war es uns als Eltern wichtig , unsere besonderen Kinder ganz individuell zu sehen, sie bestmöglich zu fördern, ihre besonderen Talente heraus zu finden und sie zu ermutigen diese dann auch auszuleben. Gerade bei Kindern mlt einer Beeinträchtigung (oder so viel schöner beschreibend: „specialneedkids“) ist es so so wichtig sie ins Leben zu lieben, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und ein tolles Hobby zu finden, da ihr Alltag leider oft viele Einschränkungen und „das-geht-nicht-das -kannst-du-nicht-da -gehörst- du – nicht- dazu““ birgt. (siehe dazu: https://herzeltern.de/familienalltag/reservebank-oder-startelf/) […]

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